FMX 2019: Storytelling in 360° und VR – Teil 1
3. May 2019
FMX 2019: Storytelling in 360° und VR – Teil 1
3. May 2019
FMX, Stuttgart, 30. April bis 5. Mai 2019
Eine Postkarte von Christian Gasser
Jan Pinkava und Google Spotlight Stories
Wie erzählt man Geschichten in VR und/oder 360°? Das ist der Dauerbrenner, seit VR von sich behauptet, der nächste grosse Schritt in der Entwicklung des bewegten Bilds zu sein. Die Technik ist längst ausgereift, doch der überzeugende narrative Wurf lässt auf sich warten. Es ist, als sässen wir im Zirkus und starrten gebannt auf den Zylinder des Zauberers – und nichts passiert.
Auch dieses Jahr wurden an der FMX diverse Ansätze vorgestellt und diskutiert, positive wie auch negative Beispiele. Vor allem die meines Erachtens missratenen Beispiele aus dem Labor des deutschfranzösischen Kultursenders Arte waren ausgesprochen aufschlussreich – dennoch beginnen wir mit den gelungeneren Ansätzen, Google Spotlight Stories.
Make something emotional!
Der kreative Kopf von Google Spotlight Stories ist der 1963 in der damaligen Tschechoslowakei geborene Jan Pinkava, dessen Karriere im Animationsfilm beeindruckend ist. Für den Pixar-Kurzfilm “Geri’s Game” gewann er einen Oscar, er war eine treibende Kraft hinter “A Bug’s Life” und der Schöpfer und Co-Regisseur von “Ratatouille”, und nach einem Umweg über Laika wurde er von Google angeheuert, um unter dem Label Google Spotlight Stories kurze VR-Filme und -Erlebnisse für mobile Geräte zu produzieren. In seinem einstündigen Vortrag an der FMX führte er das Publikum durch sechs Jahre und dreizehn Filme. Wobei: Pinkava selber sprach nie von “Filmen”, sondern nur von “Shows”.
Der Auftrag habe simpel geklungen, sich aber als anspruchsvoll entpuppt, erinnerte sich Pinkava: “Make something emotional!” Das Publikum soll nicht nur beeindruckt und verblüfft, sondern in erster Linie berührt werden.
Gemein sei allen Google-Spotlight-Shows, dass am Anfang jeden Projekts die Geschichte stünde. Erst im nächsten Schritt käme die Technik zum Zug. Was auch immer die Geschichte benötige, “we have to make it happen”. In vielen Fällen erfordert das Improvisation, Experimente und die Entwicklung passender Programme, narrativer und gestalterischer Ansätze. Das sei aber der einzige Weg, um überzeugende Resultate zu erzielen.
Eiskunstlauf und Segeltörns
Pinkavas Präsentation war ein wilder Ritt durch sechs Jahre VR-Geschichte; dicht gedrängt, oft atemlos; dabei fokussierte er auf die primäre Herausforderung in jedem Projekt.
In “Duet” ging es um den Versuch, eine VR-Show mit Zeichentrick zu machen; im rasanten Eiskunstlauf-Film “On Ice” musste vermieden werden, dass dem Publikum wegen der wirbelnden Bewegungen übel wird, im preisgekrönten “Pearl”, der Lebensreise eines Musikers und seiner Tochter, musste der die Geschichte erzählende Song so aufgenommen und beim Schauen ausgelöst werden, dass er, egal welche Perspektive der Zuschauer einnahm, auch räumlich richtig klang. Und wie komponiert und arrangiert man einen Score, damit er jederzeit und ohne hörbare Brüche von einer Handlungsphase in die Warteschlaufe und wieder zurück wechseln kann?
Besonders aufschlussreich war die Grafik zum jüngsten Projekt “Age of Sail”: Während die Filmversion eine hohe Schnittfrequenz mit Dutzenden von Cuts aufweist, kommt die VR-Show mit gerade einmal sieben Schnitten aus.
Lust auf Kuchen!
Die Google-Spotlight-Shows sind kleine, unterhaltsame, unprätentiöse, aber in der Regel sehr clevere Geschichten. Besonders hübsch ist “Piggy”: Ein rundliches Schwein macht Diät, möchte aber heimlich Kuchen essen; wenn immer es kann, rennt es zum Kuchen; wenn wir ihm folgen und es beim Kuchen ertappen, legt es ihn verschämt wieder zurück …
Im Zentrum steht also die Story. Die grosse Herausforderung sei dabei immer die Sequenzialität. Wie das Leben sei auch eine VR-Show letztlich sequentiell: “We can’t be in two places at the same time”. Die Schwierigkeit sei es, die Bausteine seiner Geschichte so zu konstruieren, dass sie in allen möglichen Sequenzen Sinn ergäben. Das unterstrich Pinkava mit ein paar Grafiken, die die enorme Komplexität auch der “kleinsten” und unprätentiösesten Shows sichtbar machte.
Zuschauen, handeln und warten
Interaktion bedeutet bei Google Spotlight: Der Blick des Zuschauers löst Handlungen aus und steuert die Abläufe. Blickt der Zuschauer auf eine Stelle, wo keine Handlung stattfindet, wartet die Handlung auf ihn. Das ist ein sehr pragmatisches, aber auch reduziertes Verständnis von Interaktion; ob es auf die Dauer befriedigend sein wird, ist fraglich.
Auffällig ist jedenfalls, dass der Zuschauer in den Google-Spotlight-Shows nie zur handelnden Figur wird und auch nie die Perspektive einer Figur einnimmt. Die einzige Ausnahme bestätigt die Regel. “We do not attempt to give you a role in the show”, erklärte Pinkava, “because it’s really hard to deliver on the promise.” Ist der Zuschauer ein Akteur, erwartet er auch, die Dinge im Film anfassen, bewegen und spüren zu können. Enthält man dem Zuschauer diese Form sinnlicher Eindrücke vor, empfindet er die Erfahrung als unvollständig und frustrierend.”
Diese dichte Stunde war, das lässt sich nicht von allen FMX-Veranstaltungen sagen, viel zu kurz. Pinkava konfrontierte uns mit vielen Fragen, mit denen man sich beim Entwickeln einer VR-Story auseinandersetzen muss – und lieferte die eine oder andere Antwort darauf. Im Gegensatz zu den meisten FMX-Speaker*Innen ist Pinkava nicht in erster Linie ein Techniker, sondern jemand, der VR in erster Linie konzeptionell und theoretisch oder, um einen grossen, in seinem Zusammenhang mehrmals gehörten Begriff zu verwenden, philosophisch durchdringt.
Warum Google nach nur sechs Jahren den Stecker zieht und Google Spotlight einstellt, wollte Pinkava allerdings nicht kommentieren.
Soweit das positive Beispiel von VR-Erfahrungen. Im nächsten FMX-Bericht geht es darum, was man alles falsch machen kann …
Christian Gasser